Erneut steht eine große Textaufgabe vor uns, aber wir sind im Rausch der Vorfreude und deshalb hoffen wir, mit diesen erhöhten Adrenalinwerten das Vorhaben zu meistern: Sergei Polunin ist in der Stadt und wir haben Karten für die Bayerische Staatsoper in München, um ihn als Franz in der Coppélia in der Choreographie von Roland Petit zu erleben. Und nun wollen wir diesen beiden großen Namen, Petit und Polunin, gerecht werden.
Mit Coppélia wird zum ersten Mal ein Stück von Roland Petit, der 2011 im Alter von 87 Jahren verstarb, am Bayerischen Staatsballett zu sehen sein, wenn auch mit seinem Namen in erster Linie die Carmen für immer verbunden ist. 50.000 Mal war sie in den ersten fünfzig Jahren seit ihrer Uraufführung auf der ganzen Welt zu sehen. Das sollte als kleiner Beleg reichen um von der Größe des Werk von Roland Petit eine erste Ahnung zu bekommen. Es war übrigens seine langjährige Lebensgefährtin und spätere Ehefrau Zizi Jeanmarie, die ihn nach einer Affäre mit Margot Fonteyn 1949 aufforderte, etwas Großes für sie zu kreieren, sie würde ihn sonst verlassen.
Doch Petits Schaffen ist nicht nur groß, sondern so lebhaft wie es die Augen des umtriebigen Mannes stets verrieten. Er kreuzte das klassische Ballett mit dem Spirit der Broadway Musicals, rasant, witzig, mit Elementen der Pantomime durchdrungen, rückte so von der klassischen Formensprache ab, ließ pure Erotik in seine Werke fließen, Eleganz und Esprit versprühen, wenn seine Ballerinen auch auf Spitze noch mit den Hüften wackelten wie Revuegirls.
So spann die Fülle seiner Umtriebigkeit den großen Bogen von der tänzerischen Hoch- zur Unterhaltungskultur, vom grazilen Ballett zum frivolen, burlesken Montmartre -Varieté, verschmolz den klassischen Tanz mit Jazz und Songs aus dem Mainstream, kreuzte amerikanischen Schwung mit französischem Chic und Galanterie. Seine neoklassische Tanzsprache, die karikierende und expressionistisch übersteigerte Ausdrucksweise wurde ihm durchaus vorgeworfen: Sein Ballett sei eine Anmaßung! Wir bezweifeln ein wenig, dass ihn das in seinem Tatendrang je angefochten hat. Vier Ballettkompagnien gründete er im Laufe der Jahre in Paris und Marseille, mit gerade mal zwanzig Jahren die erste, ging zwischendurch einige Jahre nach Hollywood, wo er Tanzeinlagen unter anderem für Fred Astaire choreographierte. Zwischendurch kaufte er das Casino von Paris für seine Frau Zizi. Dem Time Magazine sagte er dazu in einem Interview: „Wir sind Theatermenschen. Statt also nach einem normalen Präsent zu suchen, entschied ich mich ihr das Casino de Paris zu schenken“. Mit Liedern von Serge Gainsbourg beispielsweise und den Kreationen eines Erté oder Yves Saint Laurent produzierte er dort klassisches Cabaret.
Große Namen begleiteten ihn ohnehin. Neben bereits erwähntem Yves Saint Laurent entwarf auch Christian Dior Kostüme für seine Inszenierungen, Künstler wie Pablo Picasso, Niki de Saint Phalle und Max Ernst schufen Bühnenbilder für seine Ballette und die Libretti wurden auch schon mal von Georges Simenon, Jean Genet oder Jean Anouilh geschrieben. In Hollywood arbeitet er mit Orson Welles und Bing Crosby, aus der Erinnerung an gemeinsam verbrachte Tage mit Charlie Chaplin entstand das bemerkenswerte Stück Charlot danse avec nous. Seine Adaptionen von berühmten Werken für die Ballettbühne sind darüber hinaus unzählig: Ob Victor Hugos Glöckner von Notre-Dame, Emile Zolas Nana oder „Cyrano de Bergerac“ – sie alle inspirierten ihn für Tanzfiguren. Manch einer sprach von einem geradezu unstillbaren choreographischen Appetit, mit dem Petit sich durch die Werke nagte.
Geschaffen hat er das mit seiner wachen, so verschmitzten wie charmanten Art. Goldrichtig stand er nach dem zweiten Weltkrieg dazu in den Startlöchern. Als das Grauen und der künstlerische Stillstand der Okkupation noch kaum beendet war, verließ er die Kaderschmiede Ballet de L’Opéra de Paris, wo er klassisch von Serge Lifar ausgebildet worden war und gründete mit gerade mal zwanzig Jahren seine erste Compagnie. Dass er noch während der Besatzung sich bereits ein großes Netzwerk geflochten hatte, kam ihm zugute. Zudem drängte es die Künstler nach der dunklen Zeit wieder ans Licht, voller Motivation wieder zu tanzen, zu schreiben, zu singen. Und viele von ihnen vertrauten Petit dem Bohemien, nach Unabhängigkeit dürstend, mit tausend neuen Ideen im Kopf. Und auch wenn im Geiste ein Vagabund, so betrachtete er doch die Kompagnien stets als Familie, empfand das Leben zwischen seinen Tänzern als Glück. „Als Choreograph lebst du mit Deiner Compagnie“, so Petit. Sie sei wie das Piano für einen Klavierspieler und die Arbeit mit dem menschlichen Körper, der schönsten Sache überhaupt, sehe er ein wenig wie die eines Bildhauers. Seine Funktion sei es, so Petit, niemals nur zu betrachten, sondern Ballett zu machen. Das sei seine Art sich auszurücken, zu leben und zu existieren.
Auch wenn er seit 2011 dieser Berufung nun im Himmel nachkommt, so wirken seine Werke bis heute in den großen Häusern weiter. Und sicherlich wird er von dort aus lächeln, wenn am Samstag seine Coppélia in München gegeben wird und kein geringerer als Sergei Polunin den Franz gibt.
Sergei Polunin …. Auch, wenn dieser heute zu den bedeutendsten Tänzern unserer Zeit zählt, so gab es Momente in seiner Karriere, in denen es ganz und gar nicht klar war, dass er in einer so überaus heiteren Inszenierung wie Petits Coppélia noch einmal sein Können zum besten geben würde.
Schließlich hat der geborene Ukrainer sich in seinem Talent, seiner Widerborstigkeit, seiner – einem Balletttänzer in der ein oder anderen Intensität durchaus immanenten, bei ihm aber gefährlich weit entwickelten – Tendenz zur Selbstzerstörung und seiner Lust zu verstören, systematisch und schon früh zum (überaus beliebten) Enfant terrible entwickelt.
Wollte man zu Beginn seiner Karriere „nur“ seine Begabung sehen, so will inzwischen jeder, der meint, nicht dem Mainstream anzugehören, ein Stück von ihm abhaben. Selbstmarketing müsste er kaum noch betreiben. Das übernimmt vor allem die Fashionszene liebend gerne, inszeniert ihn in seinem Anti-Helden-Image in seitenlangen Photostrecken, wirbt mit ihm, um sich in seinem Glanz zu sonnen und in der Hoffnung, selbst von seinem sich gut verkaufenden Anti-Helden-Image zu profitieren. Polunin musste nur die Zündschnur legen, tat dies in Form von Posts, in denen er öffentlich nach Heroin fragte oder indem er seinen Körper ritzte und mit Tattoos überzog. Seine Wandlungsfähigkeit im Ausdruck, die zwischen Arroganz, James Dean-hafter Jugendhaftigkeit und Undurchdringlichkeit changiert, sein gegebenes Talent zur Selbstinszenierung, tun ihr Übriges. Diese dadurch zur Schau gestellte Gequältheit, diese Zerstörung, diese Rebellion eines Genies wirken aber geradezu wie pure Magie, phaszinieren und ziehen Bewunderung nach sich. Wie langweilig wirken Fleiß und Streben gegen ein Talent, das selbiges anderen nur so vor die Füße wirft und in seiner Selbstbezogenheit am liebsten noch darauf tritt … In dieser Rolle ist er inzwischen weit mehr als nur ein Ballettstar, um den sich die Bühnen der Welt reißen, wissen sie doch, dass sein Name Garant für ein ausverkauftes Haus ist.
Dabei hätte alles gründlich schiefgehen können. Nach steiler Karriere an der London Royal Ballet School, in die er im Alter von 13 Jahren eintrat, hielt er nach zwei Jahren als umjubelter, jüngster Solo-Tänzer und Prinzipal (ein Status, von dem jeder Tänzer träumt) in der Geschichte des Hauses dem Druck nicht mehr stand und verkündete 2012 seinen Austritt, drohte alsdann in der Londoner Underground-Szene zu versinken, wurde aber von Igor Zelensky, Direktor des Bayerischen Staatsballetts und Ballettchef am Moskauer Stanislawski-Theater, aufgefangen. Zelensky wurde sein Mentor (sein Konterfei ließ sich Polunin auf den Oberarm stechen) und gab ihm den Entfaltungsspielraum den er brauchte, um wieder Stabilität zu erreichen.
Der sonst so gerne opulent inszenierende David LaChapelle war es schließlich, der aus dem Balletttänzer einen Popstar machte. Fast 28 Millionen Mal wurde das Video zur Musik von Hoziers „Take me to Church“ seit seinem Erscheinen im Februar 2015 angeklickt. In der schlichten, lichtdurchfluteten, von Urwaldgrün umrandeten Holzscheune, die immer wieder wie sein imaginäres Gefängnis wirkt, tanzt sich Polunin buchstäblich die Seele aus dem Leib, springt in Himmelshöhe, robbt am Boden, rennt, hält inne, dreht im nächsten Moment Pirouetten in die Unendlichkeit hinein, zelebriert die Liebe des Tanzes, scheint im nächsten Moment sein eigenes Talent und alles Grazile zu hassen und es inklusive aller Dämonen, die ihn bis dahin begleiteten, zerstören zu wollen, will es sich aber noch einmal beweisen, den Druck und die Qualen seiner Karriere von sich abstreifen, verzweifelt an der Welt, an seiner Wut, an seiner Angst, dem Dasein, kontempliert eine Sekunde im grellen Lichtschein, um dann wieder das jahrelang Erlernte in all seinen Facetten zu würdigen und mit ganzem Stolz zur Schau zu stellen, erfindet die zeitgenössische Tanzbewegung neu, huldigt der Klassik, zerrissen, bei sich, (sich) hassend, (sich) liebend, selbstvergessen, konzentriert, anmutig und im nächsten Moment brutal, sich peinigend, alles und jeden für immer wegstoßend, um sogleich ans Fenster zu springen, als wolle er die gesamte Menschheit zu sich rufen … Das alles, als sei es sein letzter Tanz, sein letztes Mal – was das Projekt übrigens auch ursprünglich werden sollte. Polunin wollte mit alledem abschließen, öffentlich, dramatisch, theatralisch, ganz einem Ballettstar eigen. In einem Interview gibt er unumwunden zu, vor Beginn der Dreharbeiten stundenlang geweint zu haben. So sinkt er am Ende zusammen, verzeiht, schließt Frieden mit sich, dem Tanz, der Welt. Wir möchten anfügen: zumindest für den Moment. Schließlich scheint zwischen seinem ewigen Jonglieren zwischen den Extremen auch seine Beziehung zwischen sich und der Öffentlichkeit, die nach ihm giert, hindurch: er kann weder mit ihr, noch ohne sie – und wir fügen an: vice versa … Denn Polunin hat das erreicht, was er erreichen wollte: ein Superstar zu sein, weit über das Ballett hinaus. Sein Antrieb war sicherlich zum einen, dass er die Umstände, unter denen Balletttänzer üben, arbeiten und (gänzlich unterbezahlt) leben müssen, schlicht für schändlich hält und sie immer wieder thematisiert. Zum anderen unterscheidet sein Charisma, seine klare Vision, seine Art, sich und sein tiefstes Inneres zur Schau zu stellen ihn weit von normalen Talenten. Und seine Provokationen, seine immerwährende Rebellion mit denen er sein Image zerstören will, ziehen am Ende immer nur erneut Bewunderung nach sich. Wir als Fangemeinde müssen das aushalten. Aushalten, dass er die Grenzen bewusst immer weiter dehnt, indem er erst seinen Körper malträtierte und inzwischen Botschaften aussendet, mit denen sich die Öffentlichkeit, gelinde gesagt, schwertut. So, wenn er sich Vladimir Putin auf die Brust stechen lässt oder sich offen über Homosexuelle mokiert … – vielleicht ist das unsere Form von Rache an seinen Eskapaden: wir halten sie einfach aus!
Und wenn er am Samstag auf der Bühne steht, dann denken wir nicht mehr an diesen Text, sondern lieben ihn schlicht für sein Talent – nimm‘ das, Sergei …
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